Paul, 20 (Autor/Autist):„Das Regelschulsystem hat mich aussortiert, wie eine Laus. Die Web-Individualschule hat mich gerettet.“

„Das Regelschulsystem hat mich aussortiert, wie eine Laus. Die Web-Individualschule hat mich gerettet.“

Es war mir eine große Freude, mit Paul-Christian-Mühlfeld dieses Interview zu führen. Er ist ein ganz besonders beeindruckender Mensch, der schon mit 16 sein erstes Buch veröffentlichte und aktiv öffentlich über Autismus aufklärt.

Gerne werde ich ihn auf seinem weiteren Weg begleiten und immer mal wieder über ihn berichten.

– Wie alt bist du?

19 Jahre alt, im Januar 2021 werde ich 20.

– Wann hast du deine Diagnose bekommen?

2014, mit 14 Jahren.

– Was hat die Diagnose für dich verändert?

Ich habe immer gefühlt, dass ich anders bin, die Diagnose hat es nur bestätigt. Für mich selbst war die Diagnose nicht so wichtig, aber ich brauchte sie, um endlich wieder lernen zu dürfen. Man hatte mich aus dem Regelschulsystem aussortiert wie eine lästige Laus. Die Begründung war, dass mein Förderbedarf so hoch sei, dass er auch mit einem Schulbegleiter nicht bewältigt werden kann. Dabei hatte man weder meinen Förderbedarf geprüft, noch es mit einem Schulbegleiter versucht, man wollte mich einfach loswerden. Ich hatte nie sonderpädagogische Betreuung. Ich war nicht dumm, ich war nicht frech, ich war nur anstrengend und das auch nur in den Augen der Lehrer. 


Das ist das, was ich verwerflich finde. Statt uns eine Chance zu geben, uns zu fördern und zu unterstützen, werden wir aussortiert, am liebsten weggesperrt.

Viele sagen ja, dass die Diagnose eine Erlösung war, für mich brachte sie nur Gewissheit. Und die ist notwendig, um leben zu können.

– Du hast gerade die Web-Individualschule abgeschlossen, was ist das für eine Schule, wie lange warst du an dieser Schule und wie war das für dich?

Ich habe die qualifizierte Fachoberschulreife.

Die Web-Individualschule ist die einzige lizenzierte Internetschule. Hier wird man 1:1 über Skype unterrichtet, was bedeutet, dass ein Lehrer dich durch alle Fächer und Klassen führt. Die Web-Individualschule unterrichtet Kinder, die durch das Regelschulsystem fallen. Um dort lernen zu können, musst man schulunfähig oder auf Dauer krankgeschrieben sein. Ein Team aus Pädagogen, Sozialarbeiten und Psychologen sorgen dafür, dass jedem Kind das Recht auf Bildung ermöglicht wird. Dazu passt sich das gesamte Team den Bedürfnissen des Kindes an. Bisher konnte 400 Kindern, die ansonsten keine Chance auf Bildung gehabt hätten, ein Schulabschluss ermöglicht werden.

Ich war von Mai 2015 bis September 2019 an dieser Schule und an jedem einzelnen Tag dort war ich glücklich. Fragt man mich, was diese Schule mir bedeutet, ist das ganz einfach, sie bedeutet mir alles.

Ich war soweit, dass mir das Leben sinnlos erschien, gemobbt, gedemütigt und sogar misshandelt, kam ich an diese Schule. Nur noch einen Versuch, hatte ich meinen Eltern versprochen und das Versprechen wollte ich halten. Ich glaubte aber nicht, dass es dort anders wird. Und was ich dann an dieser Schule erlebt habe, ist kaum in Worte zu fassen. Es wurde tatsächlich anders, alles wurde anders! Ich habe dort alles gelernt, nicht nur den Lehrstoff, sondern auch, dass ich als Mensch wertvoll bin, dass ich an mich glauben darf und auch, dass ich jede Chance im Leben habe, wenn ich es nur will. Auch, dass kein andere Mensch das Recht hat, mir das zu verwehren.

Ich habe gelernt, dass ich mich nicht anpassen oder verstellen muss, um dazu zu gehören, sondern ich durfte sein, wie ich bin. Statt das, was mich ausmacht zu unterdrücken, durfte ich es fördern, ich war zum ersten Mal ich selbst. Ich fand dort meinen Platz im Leben, mittendrin und nicht mehr außen vor. Diese Schule ist die letzte Hoffnung für viele Kinder, die nach wie vor unbeschult zu Hause sitzen und aussortiert werden, weil sie nicht der Norm entsprechen.

Und dennoch muss man die Finanzierung noch immer vor Gerichten einklagen. Ich bin dankbar und froh, dass meine Eltern den Weg durch alle Instanzen gegangen sind und mir diese Schule ermöglicht haben. Man versagt die Genehmigung für diese Beschulung, weil wir dort sozial isoliert seien.

Wenn man sich aber mit Autismus beschäftigt, versteht man, dass es gerade der soziale Zwang ist, der uns nervt. 

Das gesamte Team, mit der Direktorin Sarah Lichtenberger an der Spitze und vor allem mein Lehrer Matthias Rinke, üben diesen Beruf nicht nur aus, sie leben ihn. Und dort sind alle gleich, egal welches Schicksal, welche Behinderung, welche Vergangenheit oder welche Krankheit. Dort wird jede kranke Seele gesund, weil dort Menschen sind, die an dich glauben. Alle werden dort auf Augenhöhe behandelt, es ist ein ständiges Miteinander.

Und jeder bekommt seinen Chance, jeder lernt nach seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und vor allem, nach seinem Tempo. Auch ich durfte in Phasen, in denen es mir schlecht ging, pausieren und dann wieder neu angreifen. Während man in den Regelschulen solange auf den Defiziten herumreitet, bis du selber glaubst, dass du ein Looser bist, werden hier deine Stärken in den Vordergrund gestellt, das gefördert, was dich besonders macht. Man gewinnt Selbstvertrauen. Es ist Lernen auf einem höheren Niveau, Lernen bei dem du dich wohlfühlst und alles aus dir herausholst. Man nimmt Rücksicht und geht auf deine Ängste ein, statt mit ihnen zu spielen. Jeder Einzelne dieser Schule wird für immer in meinem Herzen sein. Für meinen Lehrer und die Direktorin empfinde ich eine Dankbarkeit, die man mit Worten nicht ausdrücken kann. Diese Schule hat mein Leben gerettet.

– Wie kam es dazu, dass du eine Web-Schule besucht hast?

Meine Alternative nach der Schulunfähigkeit war die Förderschule. Wer will das, wenn er weiß, dass er zwar anders tickt, aber nicht dumm ist. Ich wollte es nicht und ich hatte zum Glück Eltern, die an mich geglaubt haben und noch immer an mich glauben. Eltern, die mir beigebracht haben, dass es nie wichtig ist, was andere wollen sondern wichtig ist, was ich will. Und auch, dass ich selbst bestimme, wohin mein Weg führt. Sie haben mich immer unterstützt zu mir und meinem Anderssein zu stehen.

Ich finde unser Schulsystem überholt, es passt nicht mehr in diese Zeit. Dort schreibt man vor, wie man zu sein hat. Ein Lehrer müsste begreifen, wie Autisten ticken, die Mühe macht sich aber keiner, man hinterfragt auch nie das Warum, man legt fest, wie es zu sein hat. So entwickelt sich weder Individualität noch wird Kreativität gefördert. Man funktioniert, und , das ist meine feste Ansicht, man wird an unseren Schulen lebensuntüchtig.

Man verlässt ohne jegliche Vorbereitung auf das wirkliche die Schule, mit einer Zensur, die lediglich aussagt, dass du gut gelernt hast, aber nicht, ob du es begriffen hast. Aber man braucht mehr, wenn man im Alltag bestehen will, man braucht Persönlichkeit und die wird einem im Regelschulsystem genommen.

– Wann hast du angefangen zu schreiben?

Ich habe mit 15 Jahren angefangen zu schreiben. Ich mochte Aufsätze schon immer gern, die Lust und die Freunde wurde mir im Regelschulsystem genommen. Zu blumig, zu lang, zu verträumt. Meine Lehrerin hat sich darüber lächerlich gemacht, was gibt es Schlimmeres? Mein Lehrer an der Web-Individualschule hat da wohl mehr dahinter gesehen. Er gab mir die Aufgabe zwei oder mehrere Charaktere zu schaffen und um die herum eine Geschichte zu schreiben. Das gelang mir gut, dass daraus einmal ein Buch wird, hatten wir nicht beabsichtigt, ist aber eins meiner größten Erfolgserlebnisse. Auch etwas, bei dem ich meinem Lehrer unendlich dankbar bin. Er hat meine Kreativität gefördert, nicht blockiert.

– Wann hast du dein erstes Buch veröffentlicht? Wie viele Bücher hast du schon veröffentlicht?

Mit 16 Jahren habe ich meine erstes Buch veröffentlicht, dieses, dass aus den Charakteren entstanden war. Es heißt “Die Bermuda Bande-Verschollen in der Traumwelt.

Mittlerweile habe ich schon vier Bücher veröffentlicht. Für mich ist das Persönlichste “Asperger-Autismus-Mein Bekenntnis zum Leben”. Das beschreibt meinen Weg zur Diagnose und all den Schwierigkeiten , die damit verbunden waren und sind. Eine Diagnose bedeutet nicht, dass man automatisch auch alles versteht. Es ist ein langer Weg zu begreifen, dass man anders ist, zeigt aber auch, wie wichtig es ist, zu sich selbst zu stehen. Es beschreibt, wie es mir gelang , letztendlich zu sagen: Ich bin Autist und das ist auch gut so.

– Wo können deine Bücher gekauft werden?

Im Moment nur über mich oder meine website www.paul-christian-muehlfeld.de, weil ich den Verlag gewechselt habe. Demnächst als Neuauflage in meinem neuen Verlag und dann wieder in allen bekannten online-Buchhandlungen.

– Was sind deine Zukunftspläne?

Gegenwärtig arbeite ich an meiner Zukunft, an einem selbstbestimmten Leben. Ich studiere Betriebswirtschaft mit Spezialisierung Finanzen und Controlling im Fernstudium. Ich habe schon erfolgreich einen Lehrgang Buchhaltung und Steuerecht hinter mich gebracht. Ich möchte einmal in Richtung Steuern gehen und im Homeoffice arbeiten, wenn ich kein geeignetes kleines Team finde, das sich auf meine etwas andere Art einstellen kann. Buchführung und Lohnbuchhaltung kann ich mir auch gut von zu Hause aus vorstellen.

Als zweites Standbein beleg ich den Lehrgang Fremdsprachenkorrespondent /Englisch, ebenfalls im Fernstudium, um vielleicht später einmal von zu Hause oder in einem kleine Team Übersetzungen zu fertigen und mir so meinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Es ist bei allem Reden über Inklusion nämlich schwer, eine Praktikumsstelle oder später einen Arbeitgeber zu finden, der nicht nur nur eine Behinderung in mir sieht, sondern der erkennt, dass ich auch eine Bereicherung sein kann. Ich will einmal selbstbestimmt leben, mir meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen und beweisen, dass man als Autist zwar anders tickt aber dennoch ein Mensch ist.

Und ich will schreiben. Vielleicht schaffe ich es einmal zum Bestseller. Das wünscht sich jeder Autor. Ideen habe ich ausreichend. Schreiben ist für mich Therapie, da lebe ich alles aus, was ich mir sonst noch nicht zutraue.

– Was möchtest du der Welt über Autismus sagen?

Die Menschen sollen erkennen, dass Autismus eine andere Form des Seins ist. Es ist keine Krankheit, die geheilt werden muss. Wir sind anders, aber nicht schlechter und man muss den Autismus auch nicht wegtherapieren, um normal zu sein. Wir sind normal! 

Akzeptanz und Verständnis, ein Miteinander statt ein Gegeneinander würden uns helfen, in der Gesellschaft anzukommen. Unser aller Welt ist bunt und vielfältig und warum sollten dann die Menschen, die in ihr leben, alle gleich und genormt sein. Man muss Vielfalt auch aushalten können.

Inklusion, von der so viel gesprochen wird, heißt dazu gehören ohne Wenn und Aber. Aber noch gehören wir Autisten nicht dazu, werden ausgegrenzt, bleiben unbeschult und bekommen keinen Arbeitsplatz. Warum? Mit den richtigen Rahmenbedingungen schaffen wir Alles.

Um das zu beweisen, muss man uns vertrauen. Um Autismus zu verstehen, muss man sich mit Autismus beschäftigen und nicht an all die Gerüchte glauben, die mit Autismus daher gehen.

Für Kinder wie mich, so wurde mir einst gesagt, reicht ein Hauptschulabschluss. Wahrscheinlich weil der, der mir das gesagt hat glaubte, dass ich sowieso nie im Leben meinen Mann stehen werde, wozu dann unnötig in Bildung investieren. Das ich lernen konnte haben mir wildfremde Sponsoren ermöglicht, die daran glaubten, dass ich mehr kann als nur den Hauptschulabschluss. Ich habe deutlich bewiesen, dass man alles erreichen kann, wenn man es will und man die Chance dazu bekommt. Ich habe meine Fachoberschulreife mit Bestnoten absolviert, ich studiere erfolgreich und ich werde auch einmal selbsbestimmt leben. Von keinem lasse ich mich aufhalten, von keinem etwas verbieten. Ich werde jede Chance ergreifen, die sich mir bietet. Allerdings muss ich auf diese Chancen noch immer hoffen. 

Das Interview führte Jeannette Hoppe (im Dezember 2020)

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Yvianeria
Yvianeria
2 Jahre zuvor

Wow, ein toller Text. Ich hätte mir auch gewünschten in so eine Schule zu gehen 🙂

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